fairy_of_nostalgia

Briefe an Katrin
2021-09-05 23:25:17 (UTC)

Verrückte Sorgen

Liebe Katrin,

Nun scheint es offiziell: ich bin verrückt und werde immer verrückter! Die Gewissheit, kein Lebenszeichen von dir jemals zu erhalten, nicht zu wissen, ob du lebst oder gesund bist, schürt in mir unermessliche Ängste, die von Stunde zu Stunde steigen, bis ich mit rastlosem Zittern durchdrehe sowie vom Schlimmsten ausgehe. Daher habe ich heute aufgrund meiner Sorge, dass dir in den letzten zwei Wochen etwas zugestoßen sein könnte, stundenlang nach einem Hinweis darauf gesucht, wobei ich eine Vielzahl von Polizeiberichten, Nachrichten und sogar Todesanzeigen in deiner Umgebung sowie deiner Heimat durchforstet habe, bis ich nach ergebnislosen (zum Glück!!!!) Recherchen durch Zufall auf einen positiven Wink gestoßen bin. Meine vorübergehende Erleichterung kannte in diesem Moment keine Grenzen, während in mir der tiefste Wunsch aufkam, dass du heute einen besonders schönen Tag erleben mögest.

Dennoch bleibt in mir die Sorge, weil jeder neue Augenblick potentielle Gefahren bietet. Das Merkwürdige daran: früher war ich stets optimistisch und überzeugt, dass von mir geliebten Menschen nichts Schlimmes passieren könnte. Selbst wenn eine gewisse Zeit kein Lebenszeichen vorhanden war, war ich mir sicher, dass du deinen Umständen entsprechend glücklich warst und andernfalls dich bei mir gemeldet hättest. Beängstigend, wie rasant ich mich verändere!

Dabei tritt ein neues Bangen zu Tage. Denn ich kann nur noch hoffen, dass du niemals annähernd große Sorgen hattest, wenn du von mir länger nichts gehört hast! Schließlich ist das Wissen, dich zutiefst verletzt zu haben, der größte Fels, der mich in den Abgrund zieht und meinen berüchtigten Selbsthass sowie massive Verzweiflung, gepaart mit unendlichen Schuldgefühlen, nach sich zieht. Dieses Bangen habe ich in der Vergangenheit niemals wahrgenommen, weil ich stets der festen Überzeugung war, dass es völlig unmöglich sei, mich auf welche Weise auch immer zu lieben, wie ich beispielsweise dich liebe, oder annähernd zu schätzen. Dementsprechend war mir klar, dass kein Wesen dieser Welt sich um mich Sorgen machen könnte. Sorgen, die einen innerlich zerfressen, bis manchmal der Körper sich mit Gleichgültigkeit versucht zu schützen. Es tut mir unendlich Leid, wenn du negative Gefühle, welche auch immer, meinetwegen gehabt hast. Um Vergebung oder Verzeihung werde ich aus einem Grund nicht bitten. Schließlich habe ich dies in keinster Weise verdient. Dich zu verletzen ist für mich unvorstellbar falsch und somit unverzeihlich. Darüber hinaus ist Vergeben ein extrem großer Kraftakt, der viel Energie kostet, die ich dir nicht mehr rauben möchte. Oft haben Menschen, denen etwas angetan wurde, zwei große Probleme: die erlebte Gewalt sowie die Bitte des Gegenübers nach Verzeihung, woraus ein großes Gefühlschaos entstehen kann. Für wen ist es denn einfach, erfahrene Traumata hinter sich lassen zu können? Dadurch bleibt mir lediglich das Hoffen, dass über meine Spuren schnell Gras wächst und eine einladende Wiese mit schönen Blumen gedeiht, die meine Spuren völlig vergessen lässt.

Eine Frage jedoch drängt sich mir und eventuell sogar dir auf: warum? Warum habe ich plötzlich solche Ängste und Sorgen um dich, dass ich nachts stundenlang wach liege und nicht schlafen kann? Warum macht es mich wahnsinnig, von dir nichts mehr zu hören, wo ich doch oftmals in der Vergangenheit den Kontakt nicht aufrecht erhalten konnte?

Dazu ist es möglicherweise wichtig, zu wissen, dass ich gelernt habe, all meine Bedürfnisse und positiven Zuwendungen hinten anzustellen sowie komplett zu ignorieren. Nur Probleme und Aufgaben, von Suizidalität bis hin zu Leistungsdruck, zählen für den gegenwärtigen Zeitpunkt, alles andere darf ich nicht zulassen. Nicht geholfen haben dabei die von der Heimat aus ständigen Forderungen nach Stärke, Erfolg wie auch der absoluten Entsprechung gesellschaftlichen Erwartungen. Dazu kamen weitere Probleme, von denen du weißt. Dieser Schmelztiegel führte zu einer überwältigenden Überforderung. In der weiteren Folge blockierte mein Gehirn alles, was nicht zu dem aktuellsten Problem gehörte und verschloß meine Persönlichkeit und sämtliche Aspekte, die mich einmal ausmachten. Wie ein Zombie irrte ich von Problem zu Problem, von Aufgabe zu Aufgabe.

Nun darf ich eine Änderung meiner Ausgangslage erleben. Einen großen Teil der Probleme und Aufgaben habe ich gelöst. Dadurch habe ich Zeit. Zeit! Der wichtigste Rohstoff, den ein Mensch haben kann. In dieser Zeit bin ich zur Ruhe gekommen und konnte langsam eruieren, was mir wichtig ist, was mein Leben ausmacht. Ich konnte Gefühle zulassen. Ich konnte erfahren, wer ich bin. Die Gefühle wurden immer mächtiger und eine große Welle der Liebe überkam mich, als ich eine Erkenntnis nach der anderen gewinnen konnte. Und just in diesem Augenblick überkam mich die absolute Sicherheit, wie wichtig du mir bist und dass ich dich niemals verlieren oder gehen lassen möchte, denn riesige Glücksgefühle überströmten mich, dass ich dich kennen darf und du ein Teil in meinem Leben bist. Nun weiß ich wieder, wer ich bin, was mir wirklich wichtig ist.

Leider zu spät.




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