/me

2003-03-12 11:58:01 (UTC)

philosophisches

E.M. CIORAN, „Vom Nachteil, geboren zu sein“

Das Bewußtsein ist mehr als der Dorn, es ist der _Dolch_ im
Fleisch

* Drei Uhr morgens. Ich nehme diese Sekunde wahr, dann
jene, ich ziehe die Bilanz jeder Minute.
Wozu das alles! - _Weil ich geboren wurde._
Aus durchwachten Nächten besonderer Art erwächst die
Infragestellung der Geburt.

* Ich weiß, daß meine Geburt ein Zufall, ein lachhaftes
Akzidens ist, und dennoch: sobald ich mich gehen lasse,
führe ich mich auf, als wäre sie ein Ereignis erster
Ordnung, unentbehrlich für den Fortgang und das
Gleichgewicht der Welt.

* Was ich mit sechzig weiß, wußte ich ebensogut mit
zwanzig. Vierzig Jahre einer langen, entbehrlichen
Überprüfung ...

* Hätte der Tod nur negative Seiten, so wäre Sterben eine
undurchführbare Leistung.

* _Am Leben sein_ - Plötzlich frappiert mich die
Seltsamkeit dieses Ausdrucks, als passe er auf niemanden.

* Ich möchte frei sein, aufs äußerste frei. Frei wie ein
Totgeborener.

* Ich reagiere wie alle, und sogar wie jene, die ich am
meisten verachte, aber ich mache es wett, indem ich alles,
was ich tue, sei es gut oder böse, beklage.

* _Wo_ sind meine Empfindungen? Sie sind in mir, in meinem
Ich verschwunden, und dieses Ich, was ist das anderes als
die Summe dieser verflogenen Empfindungen?

* Es gibt in der Tatsache, geboren zu werden, einen solchen
Mangel an Notwendigkeit, daß man, wenn man einmal mehr als
gewöhnlich darüber nachsinnt, mit einem dümmlichen Lächeln
dasteht, weil man nicht weiß, wie man sich verhalten soll.

* Wenn ich mich früher angesichts eines Toten fragte: „Was
hat es ihm genützt, geboren zu werden?“, so stelle ich mir
nunmehr die gleiche Frage angesichts jedes Lebenden.

* Wann immer ich nicht an den Tod denke, habe ich den
Eindruck, zu schummeln, jemanden in mir zu beschwindeln.

* Es lohnt nicht die Mühe, sich zu töten, denn man tötet
sich immer zu spät.

* Wenn der Tod so entsetzlich ist, wie man behauptet, wie
kommt es, daß wir nach Ablauf einer gewissen Zeit jedwedes
Wesen, Freund oder Feind, glücklich schätzen, das aufgehört
hat zu leben?

* Da ich stets in der Furcht gelebt habe, vom Ärgsten
überrascht zu werden, habe ich unter allen Umständen
versucht, vorzugreifen, indem ich mich ins Unglück stürzte,
bevor es eintrat.

* Ich bin noch keinem einzigen _interessanten_ Geist
begegnet, der nicht mit uneingestehbaren Defekten behaftet
war.

* Solange man diesseits des Schrecklichen lebt, findet man
Worte um es auszudrücken; kennt man es einmal von innen,
findet man kein einziges mehr.

* Wir haben, als wir geboren wurden, soviel verloren, wie
wir beim Sterben verlieren werden. Alles. *




Ad: